Étienne Hubert – Vom Kajak zum Gravel: Die Überquerung der Alpen
Die Sommermonate stehen wie ein Synonym für harte Trainingseinheiten der Rennkanuten der französischen Nationalmannschaft, und 2023 war da keine Ausnahme. Eine fordernde Qualifikationsrunde für die Olympischen Spiele bestimmte den Sommer und hinterließ erschöpfte Athleten. Der September ist der Monat, in dem Étienne Hubert, der Veteran im Kajak-Rennsport und Caravan-Athlet eine Auszeit nimmt. Doch bedeutet das nicht, dass er etwa den Sport pausieren lässt, denn Étienne Hubert organisiert seine besonderen Bikepacking-Reisen, die man nicht verpassen darf.
Für ihn ist es unvorstellbar, den Sommer zu beenden, ohne ein herausforderndes Reise-Abenteuer mit dem Rad in der Wildnis mit seinen Freunden zu teilen. Etliche Projekte wurden erwähnt und letztendlich hätte die Torino-Nizza-Route gewonnen, wenn nicht ein gewaltiger Erdrutsch die TGV-Verbindung zwischen Paris und Turin außer Gefecht gesetzt hätte. Also wurde eine epische Ersatzreise zwischen Saint-Jean-de-Maurienne in den Alpen und Nizza an der Côte d’Azur erstellt, ein etwas weniger herausfordernder Kurs, der jedoch auf seinen 600 km mit 16 000 Höhenmetern die teilnehmenden Fahrer auf ihre Kosten kommen lässt.
Étienne Hubert besitzt diese fantastische Fähigkeit, Menschen zu vereinen. So schafft er es, Sportler aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenzuführen, um sich auf seine (manchmal faszinierenden) Abenteuer einzulassen. Von der ersten Mitteilung an die WhatsApp-Gruppe an, die aus rund zwanzig neugierigen Mitgliedern besteht, werden nun mehr als zehn an den Start gehen. Manche davon sind Neulinge, die sich in den nächsten paar Wochen Fahrräder und Ausrüstung kaufen müssen. Doch das zeigt nur, wie überzeugend Étienne sein kann. Die Gruppe besteht aus fünf Kajak-Weltmeistern, einem Profi-Radsportler, einem früheren Mittelstreckenläufer sowie anderen Abenteurern aus unterschiedlichen Lebensbereichen. Auf dem Papier sieht alles gut aus und die Gruppe wird standhalten und auch wenn sie sich mit dem Rad tatsächlich auf den Weg begeben, werden sie sich behaupten. Vielleicht könnte man diese Gruppe als „die Unbesiegbaren“ bezeichnen.
Im flachen industriellen Tal von Saint-Jean-de-Maurienne, das nicht zu den schönsten Orten zählt, um eine Reise zu beginnen, herrscht eine bleierne Hitze. Doch auch der Gravel-Pfad, der unser Peloton nach Valloire führen sollte, wurde durch einen Erdrutsch in Mitleidenschaft gezogen. Erst auf dem Col du Galibier wird das Offroad-Abenteuer wirklich beginnen, und es ist ein einzigartiger Moment, als die Gruppe, die über beide Ohren beladen ist, den Gipfel erreicht. Der Weg, der zu der Schutzhütte Rochilles auf einer Höhe von 2600 m führt, wird von der Ansicht des gewaltigen, sich auftürmenden Pointes de Cerces (3098 m) dominiert, der schon mal einen Vorgeschmack auf das Terrain gibt, das es in den nächsten Tagen zu bewältigen gilt. Ein Vorlauf, bei dem man sein Rad zwei oder drei Kilometer schieben muss, ist der Preis, den man zahlen muss, um die Galibier- und die Lautaret-Straße zu meiden und das herrliche Nevache-Tal zu erreichen.
Das Tal gilt als Mekka des Skilanglaufs und präsentiert sich mit einer besonders ruhigen Atmosphäre, mit flatternden tibetanischen Gebetsfahnen und glitzernden Flüsschen. Es steht wie ein klarer Kontrast zur Stadt Briançon, die die Gruppe ein paar Stunden später erreicht, um kurz in die „Zivilisation“ zurückzukehren, bevor sie die Pässe des Izoard und des Agnel angehen. Der Col de l‘Agnel wurde für das Ende des zweiten Tages als Platz zum Biwakieren auserkoren. Vielleicht war das nicht die beste Idee, denn auf 2 500 Metern sind die Nächte kalt und noch kälter, wenn man so leicht wie möglich für die Reise packen muss und die Schlafsäcke nicht die dicksten sind. Aber das ist es, was ein Abenteuer hin und wieder abverlangt. Der darauffolgende Tag wird dagegen deutlich wärmer.
Italien steht auf der Programmkarte des dritten Tages, „Che Bella!“ Es ist 10 Uhr morgens, und die Sonne scheint ihr ganzes Pulver zu verbrennen. Die holprigen Pfade befreien die Räder von überflüssigen Habseligkeiten. Alles, was nicht in die Packtaschen passt, verschwindet: Flipflops, Lichter, Ersatzschläuche … Am Ende des Pelotons ist jedoch fürs Aufsammeln gesorgt – kein Problem. Ein gutes Eis gibt es heute natürlich auch. Die Gruppe wechselt sich beim Fahren an der Spitze ab, um auf dem Talboden „Klein-Peru“ zu erreichen, die Hauptattraktion der Route am vierten Tag. In dieser Gruppe gibt es Abenteurer, Athleten, die schon die Welt bereist haben und nicht ihre erste geografische Entdeckung machen. Doch „Little Peru“ erzeugt bei allen Teilnehmern die gleiche kollektive Begeisterung und das gleiche Staunen, gerade so wie das große Peru. Wie in den Anden findet man hier ein hoch gelegenes Plateau vor, das von Schotterwegen durchzogen ist. Dieser Ort ist erhaben und unübersehbar, auch wenn die Wege, die dort hinführen, der Gruppe einiges abverlangen. Die große Anstrengung wird jedoch weitestgehend belohnt, wie es die Natur so will.
Es ist bereits Tag fünf, und die Gruppe befindet sich auf der Via del Sale. Dies ist der längste Tag der Reise – herausfordernd und scheinbar endlos. Der Militärweg führt durch die Bergkämme zurück nach Frankreich. Hier folgen die Überreste von Forts und Kasernen eng aufeinander. Viele Radsportler und Wanderer legen an der Schutzhütte Don Barbera eine Pause ein, doch wird diese Gruppe erst im Tal bei Tende rund 1 300 m weiter abwärts und so einige Kilometer weiter voraus halt machen. Sie werden erst in der Dunkelheit aufhören zu fahren. Doch das Barbecue am Bett eines trockengelegten Flusses bietet reichlich Protein, um Energie für den letzten Teil der Reise zu tanken, und das ist die ganze und pure Objektive des Moments. Morgen wird das Meer in Sichtweite kommen und mit ihm erneute Motivation, um in die Pedale zu treten.
Jedes Biwak-Arrangement benötigt Zeit. So verschiebt sich im Laufe der Tage die Abfahrtszeit nach hinten und es ist bereits 10 Uhr, als die Gang die Straßen von Tende an diesem Samstagmorgen verlässt. Die Pläne für den Tag sind lang und unsere Fahrer werden wegen des späten Aufbruchs etwas aufzuholen haben. Doch die Art und Weise, wie die Pässe in Angriff genommen werden an diesem vorletzten und Beine ermüdenden Tag zeigt, dass der Wettkampfgeist die Gruppe noch nicht verlassen hat. Sowohl bei den Talfahrten als auch bei den Anstiegen ist die Kampfeslust spürbar. Es ist tief verwurzelt in der DNA dieser Krieger, und diese Reise trägt klare Züge eines Trainingscamps. Das Dorf Saint Agnès, das oberhalb von Menton am Hange eines Berges thront, markiert den Anfang vom Ende, denn schon morgen werden sie in Nizza ankommen. Das Team nimmt die einzige Wasserstelle des Dorfes ins Visier, die sich am Kreisverkehr am Fuße der Straße befindet, die zum Col de la Madone führt.
Hier werden die Zelte das letzte Mal an einem Platz aufgeschlagen, der ziemlich unpassend, jedoch effektiv und praktisch ist. Ein Restaurant hat sich bereit erklärt, die Gruppe an diesem Abend in Empfang zu nehmen, obwohl es schwierig sein wird, ein T-Shirt zu finden, das noch sauber ist. Der Ort ist rustikal, doch die 11 Kerle, die gerade auf der Terrasse des Lokals angekommen sind, noch viel mehr. Das Essen ist üppig und der Abend gelungen. Morgen versprechen die verbleibenden 40 Kilometer, die nach Nizza führen, zu einer Prozession und einem regelrechten Fest zu werden.
Das warme, klare Wasser des Mittelmeers, in das sich die Gang an diesem Sonntagmorgen stürzt, birgt den Geschmack der Belohnung und einen Moment, von dem alle seit dem ersten Anstieg vor sechs Tagen träumten. Es scheint, als wären Wochen des Abenteuers seitdem vergangen.
Die Sonnenbrillen werden später ein paar von Tränen gerötete Augen verstecken, als die Zeit, den Zug nach Hause zu nehmen, näher rückt. Eine Reise wie diese ist für Freunde viel ernster, als es aussieht. Sie kann unerwartete Glücksgefühle und Stolz aufkommen lassen und immer den sofortigen und spontanen Wunsch, dies alles so bald wie möglich zu wiederholen!
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Ein Tag im Sportlerleben von Étienne Hubert.
Es ist 06:27, als wir vor Étienne Huberts Haustür am östlichen Rand von Paris stehen. Der professionelle Kanute und Athlet unserer Wohnwagen-Truppe residiert nur einen Steinwurf vom Bois de Vincennes, dem größten öffentlichen Park der Stadt, entfernt. Heute sind wir hier, um ihn zu begleiten, während er trainiert und um das Leben eines Sportlers, der trotz seines fortgeschrittenen Alters nicht aufzuhalten ist, zu beobachten.
TRANSMISSION – GUILLAUME NERY.
Radfahren ist ein Geschenk von dem Zeitpunkt an, an dem man beigebracht bekommt, in die Pedale zu treten und schließlich die Straße entlangfährt, bis zu dem Moment, in dem man dankend die Arme hochreißt, wenn man die Ziellinie überquert.