Sturm Alex: Die Widerstandsfähigkeit des Hinterlandes

Vor einem Jahr, am 2. Oktober 2020 erklärten die lokalen Behörden von Nizza und seinem Hinterland die Alarmstufe Rot. Der Sturm Alex, ein atlantisches Tiefdruckgebiet, wurde von den Wetterreportern nachträglich als meteorologischer „Bombensturm“ kategorisiert, der in Richtung Südfrankreich zog. Schulen in der Region wurden für diesen Tag geschlossen und Unternehmen wurden gebeten ihr Mitarbeiter nach Hause zu schicken. Keiner wusste zu diesem Zeitpunkt, wo und wie stark der Sturm einschlagen würde.

Die Küste litt unter noch zerstörerischeren Sturmausmaßen als gewöhnlich, allerdings war es das Hinterland um Nizza, in Frankreich und Italien, das den höchsten Preis zahlte und von ungewöhnlich gewaltsamen Wetterereignissen regelrecht verwüstet wurde. 18 Menschen starben und hunderte Häuser wurden weggespült. Straßen wurden zerstört und Brücken auseinandergerissen. Der Sturm veränderte die gesamte Landschaft für immer.

Im Hinterland zu leben, bedeutet sich für ein viel härteres Leben zu entscheiden, als in den städtischen Gebieten. Die Ökonomie ist fragil, es dauert länger etwas zu unternehmen, Besorgungen sind schwerer zu erledigen, der Komfort beschränkt sich häufig auf ein bloßes Minimum und der Zugang zur Kommunikationstechnologie ist häufig unvorhersehbar. Noch über das Trauma hinaus, das Alex hinterlassen hat, machte der Sturm das tägliche Leben für tausende Menschen noch viel komplizierter. Die Mehrheit von ihnen ist stark isoliert worden.

Letztendlich wurde der Straßenverkehr im Roya-Tal für Monate massiv beeinträchtigt. Der touristische Zug Merveilles, der von Nizza nach Tende führt wurde von Tag auf Nacht die Lebensader des Tals. In einigen Dörfern und Weilern wurden Wege und Pfade die einzigen verfügbaren Routen. Nach inzwischen einem Jahr versucht die Region immer noch zum normalen Leben zurückzukehren – die Belastbarkeit der Täler wurde bis an ihre Grenzen getestet.

Es ist Oktober 2021. Chris steigt mit meinem Gravel-Bike in den Merveilles Zug ein und kehrt ein Jahr nach dem Sturm in die Region zurück. Das Ziel der heutigen Fahrt ist Ortsansässige zu treffen und alles, was Hoffnung macht, zu betrachten. Nach einer zweistündigen Zugfahrt entlang der Berge, kommt der Zug in Tende an, das nur ein paar Kilometer von der italienischen Grenze entfernt liegt. In der kleinen Dorfbäckerei ist viel los, als die Morgensonne sich gerade über die Gassen erhebt. Dieser Tag verspricht wunderschön zu werden. Auf dem heutigen Menü stehen zwei Bergpässe, Brouis und Braus, aber zu dem später. Chris nutzt die erste Hälfte des Tages, um einen kleinen Umweg zum Dorf La Bigue zu fahren, in dem die Kapelle, die Notre-Dame de Fontaines genannt wird, wie durch ein Wunder die Fluten des letzten Jahres überstanden hat. Die Parallelen zwischen dem Sturm Alex und der Geschichte dieses Gebäudes zu betrachten, ist ergreifend. Im zwölften Jahrhundert, höchstwahrscheinlich nach einem Erdbeben, verebbten die Wasserquellen von La Brigue und hinterließen die Bewohner in großer Sorge vor einer Dürre.

Die Dorfbewohner gelobten eine Kapelle zu Ehren der Jungfrau Maria zu errichten, wenn das Wasser zu den Quellen zurückkehrte. Das Wunder wurde wahr, und die Kapelle wurde an der Stelle erbaut, an der sieben Wasserströme aus dem Felsen emporsprossten. Das Phänomen ist auch heute klar für Besucher zu sehen. Die kleine Kirche blieb innen und außen intakt, obwohl sie an einem Bach liegt, der sich am 2. Oktober 2020 zu einem reißenden Strom verwandelt hatte. Zwar erscheint die Kapelle von außen eher bescheiden, jedoch versteckt sie einen unbezahlbaren Schatz in ihrem Inneren. Es ist, als würde man eine kleinere Version der berühmten Sixtinischen Kapelle betrachten. Das Kirchenschiff der Kapelle beheimatet mehr als 200 m² an Malereien, die aus dem 15. Jahrhundert stammen. Mit Hilfe seiner 26 Fresken, die die Passion Christi darstellen, kann man sich mit dem Glauben der Bewohner bekannt machen und sich mit dem Aberglauben jener Tage auseinandersetzen. Diese Malereien sind makellos erhalten, obwohl sie nie renoviert wurden. Sie entstanden durch eine besondere Tünch-Technik und haben den Zahn der Zeit nahezu im Neuzustand überstanden. Heute bieten sie den Besuchern beim Betrachten einen absolut einwandfreien Anblick.

Der Pfad um die Kapelle ist kein anderer als die historische Salzstraße, ein ausgezeichneter Gravel-Pfad, den wir schon nutzten und auf den wir wieder zurückkommen müssen. Die Tatsache bleibt bestehen, dass dieses kleine Bisschen Straße zwischen Saint Dalmas de Tende und der Kapelle vor faszinierenden Sehenswürdigkeiten nur so strotzt, genügend, um jeden neugierigen Fahrer abzulenken. Schauen Sie sich diesen riesigen, verlassenen Kalksteinofen an und die bemerkenswerte sogenannte Rooster-Bridge. Es wäre schade sie nicht zu sehen.

Um zu den zwei Pässen zu gelangen, die zurück nach Nizza führen, muss man der Talstraße des Roya-Tals mehr als 15 km folgen. Ein Jahr nach der Katastrophe ist die Aussicht noch immer schreckenerregend. Obwohl schon wichtige Wiederaufbauarbeiten geleistet wurden und die Spezialisten hier rund um die Uhr arbeiten, sind die Narben des Sturms noch immer offensichtlich und geben Zeugnis über die Kraft des Wassers.

In Breil sur Roya folgt die Straße dem Col de Brouis. Dieser Ort ist Zeuge einer anderen Zeitperiode mit einem Monument, das seit der Zeit steht, als die Maginot-Linie hier verlief. Das Fort, das am Col de Brouis gebaut wurde, besteht aus einem Artillerie-Block, in dem 170 Mann stationiert waren, die dort eingesetzt wurden, um den Zugang zu dem Pass zu Beginn des 2. Weltkriegs zu schützen.

Christopher erwartet die letzte Herausforderung des Tages in Sospel: der Col de Braus. Die letzten 800 m Anstieg fühlen sich wie eine Formalität an. Danach schlängelt sich die Route herunter nach Escarène und führt schnell zurück in die Außenbezirke von Nizza. Der Tag endet am Hafen und schließlich in der Altstadt von Nizza nach einer emotions- und geschichtsreichen Expedition.

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