Bunker Research-Tour „Anders als die Berge, die von der Ewigkeit erzählen können, sprechen die Bunker von einem Moment – dem Augenblick einer schrecklichen und entschlossenen Auswirkung – einem Moment, der sonst niemals eingetroffen ist.“ (Bunker Research)
„Bunker Research“ ist ein Buch das von zwei einflussreichen Personen des Radsports voriges Jahr veröffentlicht wurde: dem Autor Max Leonard und der Fotografin Camille McMillan. Dieses Werk analysiert die verborgene Geschichte der Moderne in den Bergen. Diese besonderen Berge sind zufällig diejenigen, die wir befahren. Deshalb begleiten wir ein paar Monate nach der Veröffentlichung den Trupp der Bunker Tour, der aus Max und dem Tourenspezialisten Stefan (von Pannier.cc) besteht. Wir stellen eine schöne Flotte von Gravel-Rädern zusammen und beladen sie mit allen Notwendigkeiten für eine dreitägige, umfangreiche Feldforschung. “Wenn man sich einmal die bloße Anzahl der Einrichtungen vergegenwärtigt, die sich in den Bergen tummeln, fällt auf, dass die Straße oder die Spur auf der man sich befindet , und die zunächst so unschuldig wirkte, ursprünglich vom Militär errichtet wurde und dass sie auch ein Rolle in dem Drama gespielt hat.” (Bunker Research)
Diese Straßen, Wege und Pfade sind in Frankreich als Routes Stratégiques bekannt und wurden für militärische Zwecke errichtet, um Soldaten, Waffen, Fahrzeuge und alle weiteren militärischen Ausrüstungen zur Verteidigung der Front zu transportieren, und natürlich wurden auch die Materialien zum Bunkerbau selbst dorthin geschafft. Für diese Reise sind sie unsere Autobahn, unsere schnellste und einzige Option, um per Bike zu den Bunkern zu gelangen, und sie besitzen zumeist einen Belag aus Schotter, also Gravel.
Innerhalb von 30 Minuten, nachdem wir das Café verlassen haben, befinden wir uns bereits auf der ersten Route Stratégique, die auf der Hinterseite des Mont Leuze und des Mont Fourche zum Col d’Èze führt. Von hieraus klettern wir weiter zum Fort de la Revère, das etwa 50 Jahre älter ist als die Bunker. So wie historische Wege verlaufen, haben wir es geschafft, am Anfang der Geschichte zu beginnen (was wir natürlich vorher geplant hatten). Allerdings ist das Fort groß und offensichtlich beeindruckend, jedoch ist das, worauf wir aus sind, ein völlig anderes Betonungeheuer.„Näher an der Küste haben sich die Überreste in die Umgebung integriert. Sie …sitzen zwischen den teuren Villen von Cap Martin…Man mag an ihnen jeden Tag vorbeifahren ohne sie genauer zu betrachten.“ (Bunker Research)
Wir schätzen, dass 99,9% der Touristen niemals die Bunkeranlage Gros Ouvrage du Cap Martin bemerkt haben, und doch behauste sie einst 7 Offiziere und 353 Mann. Bei einem Blick über die Panzerglocke sieht man, wie sich die Sonnenanbeter entlang der Bucht tummeln, die bis zur italienischen Grenze zum nächsten Kap reicht. Dies mag auf einer Bunkertour etwas seltsam anmuten und in gewisser Weise zu dieser Befestigung kontrastierend sein. So ist es nahezu ironisch, dass diese Küsten-Panzerglocke Zeuge von sehr vielen Kampfhandlungen während der Schlacht um Pont Saint-Louis 1940 wurde.„Der befestigte Sektor, der Secteur Fortifé der Seealpen wurde der am stärksten bewachte Abschnitt der Alpen. Es war auch der abwechslungsreichste, der fast bis zum Col de la Bonette reichte… Seine Architekten und Ingenieure mussten erfinderischer sein als ihre Kollegen vom Flachland im Norden, in dem der Bau eher standardisiert verlief. So wurden einige extravagante Formen passend zu den Herausforderungen des Terrains errichtet.“ (Bunker Research)
Die Ingenieurskunst umfasste auch die Umwandlung vieler Berggipfel in fledermausartige Untergrundlabyrinthe. Die runden, verwitterten Bauten, die man an der Oberfläche sieht, sind, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, nur die Spitze des Eisbergs. Die Bunkeranlage Gros Ouvrage Sainte-Agnés liegt auf dem halben Weg nach oben zu unserem geliebten Col de la Madone. Ihre beiden Panzerglocken sind der nördlichen und der südlichen Flanke zugewandt. Sie ist ein erstklassiges Beispiel einer Befestigung innerhalb eines gesamten Berggipfels. Wir betrachten die Anlage aus der Ferne, während wir Sainte-Agnés umfahren, um auf unsere nächste Route Stratégique in Richtung Col de Castillon zu gelangen. Gerade diese Route ist wie ein großartiges Gravel-Achterbahngelände, das mit einer Talfahrt beginnt, um dann wieder nach oben zu klettern und das Tal zwischen zwei gegenüberliegenden Bergspitzen, des Cime de Bausson und des Col de Verroux, zu durchqueren. Danach folgt die Route den Konturen des Berges zum Col de Castillon.„ Der Talkessel rund um Sospel, liegt nur unweit der Küste und wurde extrem gut bewacht. Die ganze Stadt ist von Kanonentürmen umgeben, Bunker verstecken sich in Felsvorsprüngen und Panzerglocken stehen Wache in Olivenhainen.“ (Bunker Research)
Die Bunkeranlage Gros Ouvrage de Castillon ist direkt nach Osten über das Tal ausgerichtet, direkt ins Auge der Bedrohung durch das damals faschistische Italien. So wurde das Nachbarland jedenfalls wahrgenommen, als man in den 1920igern mit dem Bau der Bunker begann. Wir wollen uns aber nicht zu lange mit dem möglichen Fall eines italienischen Angriffs aufhalten (und vielleicht ist es nur deswegen, weil wir nach Sospel wollen, bevor der Supermarkt schließt.)
Sospel war schon seit langem eine Handelsstadt, die an dem Fluss Bevéra liegt, der hier von einer Brücke überspannt wird. An dieser Brücke wurden damals Zölle für jeden erhoben, der sie passieren wollte, und hier müssen wir auch unsere Vorräte für unser Nachtcamp oben am Monte Grosso aufstocken: Brot, Käse und natürlich Wein - immer Wein.„Allmählich bekommt man ein Gespür für die zahlreichen leeren Tunnelnetzwerke die sich unter den eigenen Füssen befinden und beginnt sich vorzustellen, wie diese verlassenen Orte einst voller Menschen und voller Leben waren.“ (Bunker Research)
Unsere nächste Route Stratégique ist eine Cul de Sac, eine Sackgasse, mit dem offensichtlichen Zweck die große Bunkeranlage vom Monte Grosso zu versorgen. Hier werden wir übernachten. Naja, so in etwa. Der Plan war jedenfalls oben auf einem Bunker zu schlafen – eines der Hauptanliegen dieser Reise.
Der einziehbare, drehbare, Granaten feuernde Geschützturm, der seltsamer Weise etwas nach oben gefahren ist, seitdem Bunker Research das letzte Mal hier war, bot uns ein ideales Sideboard. Hier oben zu schlafen war in gewisser Weise geschummelt, wenn man bedenkt welch lange Tage, Wochen, Monate die Soldaten hier unter der Erde ausharrten und auf den Angriff warteten – wie in der Landversion eines U-Boots. Wir atmen die frische Luft ein und fürchten lediglich den Angriff der Insekten, die aus dem Laubwerk entspringen, das sich stufenweise um den Beton legt. Jedoch ist die Atmosphäre gefüllt mit der Präsenz der Offiziersmesse, der Soldatenunterkünfte, des Artillerieraums, kleiner Lifte und Mini Eisenbahnen, die zum Transport der Munition dienten. All das liegt da unten.„Wenn man einen Bergweg fährt, windet er sich wie ein Band, das sich selbst um die Konturen des Anstiegs legt. Bunker Research möchte das Gelände anders erreichen, indem man die Seitenwege zu den schwer zu erreichenden Stellen findet und die Seealpen als ein militärisches Rätsel betrachtet aber auch als einen sportlichen Abenteuerplatz.“ (Bunker Research)
Und so kam es, dass wir unsere „leichten” und wohlbepackten Touringräder für 3 Stunden schulterten und sie insgesamt 800m hochtrugen. Die „leichten“ Fahrräder fühlten sich gegen Ende gar nicht mehr so leicht an. Unsere Route führte uns zunächst durch Wälder, dann auf offenliegende Kuppen, dann weiter hoch durch mehr Gehölz, das schließlich einer vertikalen Mauer aus Buschgras wich, in dem gefühlt die gesamte Weltpopulation an Grashüpfern hauste. Irgendwann gestand Antton, unser Fotograf, sein starkes Verlangen nach einem Eimer Blaubeeren aus seiner finnischen Heimat. Kluger Weise tut er das, nachdem wir den höchsten Gipfel bestiegen haben. Werden wir es nachher zur Hütte, auf der anderen Seite des Col de Tende schaffen?„Heutzutage hat das gesamte Royatal die Atmosphäre eines Niemandslandes. Es ist weder Frankreich noch Italien, sondern es ist einfach was es ist.“(Bunker Research)
Ein Eimer voller finnischer Blaubeeren zählte nicht zum Verkaufssortiment in Breil-sur-Roya, also musste anstatt dessen ein Bad im Fluss das Verlangen kurieren, bevor man sich wieder aus dem Tal nach oben schleppt und bevor es nach links ab in Richtung Casterino geht. Casterino? Auf welcher Seite der Grenze sind wir? Aber, wen kümmert’s, wenn der Anstieg zur Stadt so wunderschön ist. Man verspürt diese Sensation, die Hochalpen mit ihren Bäumen, der seidenglatten Asphalt, Serpentinen und der abfallende Fluss, der eine allzu große Versuchung für einen Tenkara-Fliegenfischer in unserer Mitte darstellt. Er packt seine Angelrute aus der Sitztasche, sucht sich einen Platz auf einem Felsbrocken und jagt seine Beute, wie ein Scharfschütze in einem Bunker… nur ganz, ganz anders. Wir schaffen es definitiv nicht zur italienischen Hütte.„De Gaulle…nutzte diesen, seinen letzten Angriff auf Authion, um sich an den strategisch wichtigen Tende Pass heranzupirschen und drei Tage vor dem Sieg in Europa gelang es ihm. Tende wurde zum ersten Mal seit 100 Jahren französisch, nur durch das Unterzeichnen der Pariser Friedensverträge von 1947.” (Bunker Research)
Unsere strategische Piersch nach Tende vor dem Einbruch der Nacht schien offensichtlich zu scheitern wegen der obengenannten Radwander- und Angelaktivitäten. Und unsere Unterkunft in Casterino? - Nicht an diesem geschäftigen Urlaubswochenende. Anstatt dessen finden wir uns, in dem umgewandelten Bergbaudorf Vallauria wieder, gegrüßt von reizenden Menschen, die insistieren, dass wir uns hinsetzen und erst einmal essen, bevor wir unsere Zimmer finden. Jede Beherbergung sollte wie diese sein.
Es ist schon ironisch, dass wir uns für unsere zweite Übernachtung an einem ehemaligen unterirdischen Bahnhof wiederfinden. Hier wurde das Gestein bekämpft, um Blei zu fördern. Uns bleibt die Möglichkeit Tende früh am nächste Morgen einzunehmen und zwar über die beste Gravel-Strecke der Welt.Der Weg oberhalb von Casterino ist atemberaubend und überwältigend. Unglaublich, dass er immer noch von Autos genutzt wird, wenn der Tende Tunnel gesperrt ist. Man verlässt die Zivilisation, und es ist genauso steil wie malerisch. Die Kaskade ist ausgetrocknet, was unseren Angler enttäuscht. Als wir die Spitze des Weges erreichen, erblicken wir am Kamm von Baisse de Peyrefique italienische Bunkeranlagen, die von Mussolinis Truppen errichtet wurden und sich deutlich in ihrer Erscheinung von ihren französischen Gegenstücken unterscheiden. Sie stehen weit offener und sind speziell an diesem Tag von Rindern und Grass-Pfaden umgeben. Letztere betteln uns förmlich an, sie mit unseren Reifen zu befahren. Pourquoi pas - warum nicht?
Hinter dem Kamm flacht der Weg ab und schmiegt sich an den Berg. Die letzten Linkskurven enthüllen das epische Seitenprofil des Col de Tende, auf dem sich seine 65 Haarnadelkurven den Berg hoch winden zum großen Fort Central samt der ihn umgebenden Schutzbunker.„Ob Sie nun entlang der markierten Strecke fahren, radeln oder wandern, werden Sie bemerken, dass Sie überwacht werden. Die Scharfschützen verfolgen Ihren Fortschritt und sind bereit auf Sie zu feuern.“ (Bunker Research)
Wir kommen am Bergpass an und finden dort Horden von Feiertagstouristen mit ihren Autos und Sonnenblenden vor, die sich um das Chalet de Marmotte tummeln. Ein paar Leute liegen in Liegestühlen und sonnen sich an diesem 1800m hochgelegenen Ski Chalet. Sie waren nicht an den Stellen, an denen wir waren und haben nicht das gesehen, was wir gesehen haben und so sind wir uns der Blicke der Scharfschützen auch mehr bewusst als sie.
Das Fort Central ist so groß, dass wir mit dem Rad herein- und durch es hindurchfahren. Die große Anordnung der leeren Räume verstärkt die Wirkung, die diese verlassenen Gebäude ausstrahlen. Ihre Stille ist ohrenbetäubend, wie man sagt.„Heute sind die Soldaten, die die Bunker einst bemannten nicht mehr am Leben. Deswegen versucht Bunker Research das Gedenken an sie aufrecht zu erhalten.“ (Bunker Research)
Nach der Abfahrt vom Fort Central, vorbei an seinen beschützenden Bunkern rollen wir stets geschmeidig nach Tende. Auf dieser zentralen Route dazwischen die nach Piedmont führt, spionieren wir einen nahezu Route-66-artigen Maschinengewehrposten aus, der in ein Mini-Besucherzentrum umgewandelt wurde mit grellen Schildern und Schaufensterpuppen in Militäruniformen. Wir teilen ein gequältes Lächeln, als wir realisieren, dass jemand anderes sie auch entdeckt hat, und dachte sie wollten ein paar Cents verdienen.
Fussnoten: Fotografie: - Antton Miettinen. Text - Max Leonard