Radsport und Kreativität | Antoine Ricardou

Der Architekt Antoine Ricardou ist Gründer der in Paris ansässigen Agentur Saint-Lazare (A. S. L.) und des Montmartre Vélo Club (MVC Paris). Er studierte Bildende Kunst an der Architekturschule von Paris-Val de Seine. Sein Branding-, Architektur- und Designunternehmen, das im Jahr 2000 in Paris gegründet wurde, arbeitet in der gesamten Kreativbranche und ist auf Lösungen für Hotels, Galerien, Einzelhändler und mehr spezialisiert. Der Vater von drei Kindern, ein leidenschaftlicher Radsportler und Abenteurer, fuhr an einem regnerischen Morgen in Paris mit uns, um seine Gedanken über die Verbindungen zwischen seiner Kreativität und seinem Ausdauersport mit uns zu teilen.

Aufgewachsen im Département Hautes-Pyrénées, in der Nähe von Bagnères-de-Bigorre, wurde Antoine eine natürlicher Liebe zur Natur mit in die Wiege gelegt. Schon früh beschäftigte er sich mit Sportarten wie Klettern und Segeln. Aber für den Radsport interessierten sich seine Familie und er nicht besonders. Als wir aufgrund des Verkehrs eine Pause einlegen, erklärt er:

„Die lauten Zuschauer, die grellen Farben und die allgemeine Atmosphäre des Sports gefielen mir damals nicht. Ich begann jedoch im Alter von 18 Jahren mit dem Laufen, wurde besessen von Marathons und pushte meinen Körper so hart wie möglich, bis zu dem Punkt, an dem ich in meinen frühen Zwanzigern einfach ausgelaugt war.“

Wie bei vielen jungen Athleten führte der Herz-Kreislauf-Sport als Ausgleichsportart Antoine zum Radfahren, und so ersetzte der Radsport allmählich das Laufen.

„Erst begann ich mit dem Schwimmen und dann mit dem Triathlon und brauchte natürlich ein Fahrrad. Nach und nach habe ich den Triathlon aufgegeben, um mich hauptsächlich auf den Radsport zu konzentrieren. Der Radsport war eine Offenbarung für mich und hat mich weiter gebracht als jede andere Sportart. Jetzt versuche ich, mindestens einmal pro Woche zu fahren, vor allem am Wochenende, meistens in der Region Paris und im ländlichen Gebiet der Region Île-de-France.“

Antoine führt uns aus dem Verkehr heraus. Eine schnelle Linkskurve trägt uns hinauf in Richtung Montmartre. Wir halten an der Ecke der gepflasterten Rue St. Vincent. Auf einem handgemalten Schild steht „Au Lapin Agile“ (zum flinken Kaninchen), was ein wenig an Antoine erinnert, der sicherlich die Ausstrahlung eines flinken und schlauen Kaninchens hat.

„Ich bin mir sehr bewusst, dass ich in einem einigermaßen „snobistischen“ Beruf tätig bin und den kulturell verwöhnten Lebensstil lebe, der mit Großstädten wie Paris, London oder New York einhergeht. Mit dem Radfahren kommt die sportliche Seite, aber vor allem geht es darum, die Möglichkeit zu haben, durchzuatmen. Es ist nicht unbedingt nur ein Hauch frischer Luft - eine Chance, frische Luft zu schnappen, sondern der Radsport bietet vor allem eine Möglichkeit zum Nachdenken und Beobachten. Er ist eine Art Therapie.“

Antoines Fahrradausflüge sind, wie für viele Fahrer, die in einer Stadt leben, das Highlight der Woche, um den Horizont zu erweitern und eine Art Aufmunterung zu finden. Wir machen eine weitere Pause, um das Pariser Panorama auf dem Gipfel des Montmartre neben Sacré-Cœur zu genießen.

„Es ist die Zeit, in der ich die Hauptstadt in einem anderen Licht sehen kann. Der Radsport ist eine visuelle und intellektuelle Anreicherung: Er ermöglicht mir, das Pariser Hinterland zu entdecken und Orte zu sehen, die die meisten niemals sehen.“

Zurück auf dem Hügel in seinem Studio, das eher wie eine Werkstatt der alten Schule anmutet als wie ein durchschnittlicher, auf digitaler Technik beruhender „Designraum“, spricht Antoine darüber, wie er seine Arbeit analysiert und interpretiert.

„Der Architekt muss in der Lage sein, die Marke, mit der er zusammenarbeiten wird, so gut wie möglich zu kennen, er muss die Marke verinnerlichen. Dies erfordert eine sehr transversale Vision der Marke, er muss die Art und Weise verstehen, wie sie den Kunden umgibt."

Während wir all die wunderschön organisierten Schreibwaren, Werkzeuge und Artefakte bewundern, spricht Antoine über die Bedeutung von Details.

„Man muss einen analytischen Blick auf jedes einzelne Detail werfen, wissen, wie man die Details des Alltags seziert, man muss nach allem Ausschau halten (eine Werbung an einem Bushäuschen, eine Flasche, die auf dem Boden herumliegt, die Fassaden von Häusern), man muss ein sehr scharfes Auge für alles haben, was uns umgibt. Schließlich gibt es die Chemie, die nach dem Betrachten und Analysieren im Kopf stattfindet, das Interpretieren und Transkribieren des Gesehenen so flüssig wie möglich.“

Dieser Begriff der Chemie bringt uns zurück zu der katalytischen Wirkung, die der Radsport auf das kreative Gehirn und den kreativen Prozess haben kann.

„Nicht nur der Radsport sorgt für diese positiven Eingebungen, sondern auch alle anderen Langlauf- und Ausdauersportarten wie das Skitourenfahren und das Traillaufen. In der Tat sind solche Sportarten von Natur aus kontemplativ. In der Kontemplation gibt es eine Art Befriedigung, wenn man unabhängig Sport treibt, mit der Kraft und Einheit von Atem, Körper und Bewusstsein. Dies bietet eine einzigartige Empfindung, eine Dynamik, eine Kreation von Emotionen. Das Fahrrad steigert Emotionen und Sinneswahrnehmung um das Zehnfache. Schmerz und Freude, es ist ein echtes Privileg. Wenn ich in die Pedale trete und diese Einheit erlebe, fühle ich mich wirklich privilegiert, denn in diesem Moment bin ich der Einzige, der diesen Ort in Zeit und Raum erlebt. Anstatt im Auto zu sitzen, im Verkehr, fühle ich mich hier wie ein edler Ritter zu Pferd, aber mein Pferd ist aus Carbon und meine Rüstung viel leichter.“

Antoine glaubt, dass Radsport ein Teilbereich der Erforschung und des Experimentierens für seine Arbeit ist.

„Die dynamische Welt des Radsports bietet auch ein außergewöhnliches visuelles und grafisches Universum, in dem ich eintauchen kann. Dieses grafische Universum ist eine Quelle der Inspiration.“

Wir besprechen dann die Theorie, dass Menschen mehr Ideen einfallen, während sie Radsport betreiben.

„Ich erinnere mich an einen langen Ausflug in Richtung Rambouillet [ca. 50 km vom Zentrum von Paris entfernt], im Haute Vallée de Chevreuse. Auf einer Straße, die ich oft fuhr, kam ich an einer alten Scheune vorbei, die ich noch nie zuvor gesehen oder noch nie registriert hatte. Dann sah ich eine andere Scheune und dann noch eine. Plötzlich all diese Scheunen. Diese idyllische Vision der Île-de-France mit diesen wunderbaren Schuppen, diesen Bauernhäusern, bestätigte mir diese Vision, die ich für ein Hotel hatte, das ich als Hommage an diese landwirtschaftliche Ästhetik entwarf.“

„Meine anschließenden Ausflüge mit dem Fahrrad nach Île-de-France auf den National- und Département-Straßen bestärkten mich in meiner Idee. Denn jetzt sah ich Nebengebäude und Scheunen überall. Die Zeit, die ich auf dem Rad verbracht habe, um alles zu beobachten, war wie eine Rückversicherung für mich und ermöglichte eine konkrete Analyse, eine architektonische Bestandsaufnahme der französischen Landschaft.“

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