Radsport und Kreativität: Juliette Bruley
Dass Künstler blanken Horror vor einer leeren Leinwand empfinden und Schriftsteller vor einer neuen weißen Seite, ist eine Binsenweisheit. Wie könnte jemand seine unendlichen Möglichkeiten verschwenden, indem sie oder er den ersten Schritt macht? Manchmal muss man Grenzen ausloten, um Kreativität freizusetzen, und was wäre für einen Maler einschränkender und unangenehmer als das Bemalen eines Fahrradrahmens?
Juliette Bruley ist als Pariserin geboren und aufgewachsen, und auch, falls es so etwas gibt, als Radsportlerin geboren und aufgewachsen. Sie erinnert sich daran, dass ihr Großvater in ihrer Kindheit von Paris nach Nizza gefahren ist. Obwohl ihre Touren bisher nicht ganz so weit verliefen, ist doch das Fahrrad seit ihren ersten Jahren ihr steter Begleiter gewesen und stellt heute ein unverzichtbares Werkzeug für ihr tägliches Leben in den nordöstlichen Vororten von Paris dar. So dient heute das Rad sowohl ihrer Leidenschaft als auch als Medium für ihre Kunst.
Neben ihrer Liebe zum Radsport hat Juliette auch den Wunsch in die Wiege gelegt bekommen, zu wissen, wie die Welt funktioniert sowie den Wunsch, allen Dingen auf den Grund zu gehen. Im Alter von 17 Jahren konnte sie gleich beiden Bestrebungen nachgehen, indem sie ihr erstes Fahrrad, ein Fixed-Gear-Fahrrad (Fixie) baute. Sie fing an, in einem Fahrradgeschäft als Mechanikerin zu arbeiten, bekam dann ihre Qualifikationen und stieg zur Werkstattleiterin auf.
Allerdings war es an einem Ort mit dem Namen Stolen Garage, in dem Ihre Leidenschaften verflochten wurden. Hier erlernte sie die Kunst, Rahmen zu lackieren. – Stolen Garage bietet unseres Wissens die einzigen Kurse speziell für diejenigen an, die Fahrräder lackieren möchten. – Jetzt kümmert sie sich um alle Lackierungen, die über die Werkstatt von Stolen laufen.
Und welch eine Werkstatt das ist. Die eine Hälfte der Stolen Geschäftsräume bestehen aus einem Café mit Showroom, das saisonale Produkte aus der Region nebst in Paris gerösteten Kaffee anbietet. Hier gibt es einen Bereich für Geselligkeit und Bike Style. Die andere Hälfte der Räumlichkeiten wird durch ein gigantisches schalldichtes Fenster abgetrennt. Dahinter stellt Stolen seine maßgefertigten Rahmen aus den erstklassigen Rohren von Columbus Tubi her und übernimmt die Feinabstimmung, die Maßanfertigung und die Reparatur von Fahrrädern jeglicher Art. Ein Konzept der „offenen Küche“ jedoch mit Fahrrädern auf dem Menü, wo Sie einen Kaffee trinken können und sehen können, wie Ihr eigener Fahrradrahmen Gestalt annimmt.
Juliettes Aufgaben reichen von Überlackierungen bis zu den Arbeiten, bei denen die Farbe zum ersten Mal das makellose Metall berührt. Manchmal kommen Kunden auch mit klaren Vorstellungen davon, was sie wollen und manchmal werden ihrer Kreativität keine Grenzen gesetzt. In jedem Fall ist der Aufgabenbereich riesig: etwas zu schaffen, das sowohl ihrem eignen künstlerischen Sinn entspricht, die Wünsche des Kunden zufriedenstellt sowie Rücksicht auf die Form des Fahrrads nimmt.
Das Letztere ist keine leichte Aufgabe. Herkömmliche Rohre haben einen Durchmesser von einem Zoll, und selbst die heute gebräuchlichen „Übergrößen“ haben kaum mehr Oberfläche. Auch die Winkel und Biegungen der Rahmen stellen eine Herausforderung dar, bieten aber auch Möglichkeiten.
Die Schablonen und Abdeckungen werden digital erstellt. Doch um letztendlich eine überzeugende Lackierung für ein Fahrrad kreieren zu können, bedarf es Projektion, Visualisierung und eines dynamischen, ästhetischen Gespürs. Farbe ist Juliettes Lieblingsgebiet bei ihrer Arbeit. Mit welcher Farbe würden Sie am liebsten mit 40 Stundenkilometern durch die Landschaft brausen?
Trotz der Einschränkungen aufgrund des Verkehrs bietet das Fahrrad Juliette Freiheit auf den Straßen der Stadt. Seit sie vor kurzem Mutter geworden ist, weiß sie, dass das Fahrrad für alle Abschnitte unseres Lebens geeignet ist. So wie es ihre Eltern mit ihr getan haben, kann sie es kaum erwarten, ihre Leidenschaft an ihren kleinen Sohn weiterzugeben. Wer weiß, vielleicht ist eine Fahrt von Paris nach Nizza noch möglich. Sobald sie ankommt, wartet an der Bar von Café du Cycliste Kaffee und Gebäck auf sie.
Fotografie: Mathieu Pellerin