Der European Divide Trail in 80 Tagen – mit Nicolas und Julien
Alles begann mit einem Telefonat, und aus Ideen, wo man den Urlaub verbringen könnte, formten sich ziemlich schnell Pläne für Radsportabenteuer. „Eine Woche ist gut, doch drei Monate sind besser“, meinten wir. Der tiefe Wunsch, besonders weit zu fahren, ergriff uns ohne Vorwarnung. Die offensichtliche Wahl schwebte dort am Horizont. Auf dieser Reise würden wir beide vom Nordosten bis zum Südwesten Europas fahren und zwar Off-Road. Nach ein paar Monaten der physischen und mentalen Vorbereitung stand der Entschluss fest, dem European Divide Trail zu folgen, der von der nördlichen Spitze Norwegens über Finnland, Schweden, Dänemark, Deutschland, Frankreich und Spanien bis an den südlichsten Zipfel Portugals führt.
Also nehmen wir das Flugzeug nach Kirkenes in Norwegen. Das Rad zu verstauen und all der Stress, der damit einhergeht, ist keine Kleinigkeit. Bei der Ankunft ist Juliens Box aufgrund eines Regenschadens weit aufgesprungen und seine Habseligkeiten verteilen sich im ganzen Laderaum. Doch das norwegische Personal ist so liebenswürdig, alles wieder einzupacken. Kein Grund zur Panik. Wir fahren hinaus an den östlichsten Punkt der Reise nach Grense Jakobslev an der russischen Grenze, der wir auch in Finnland weiter folgen.
Während wir fahren, werden unsere Blicke förmlich vom Arktischen Ozean angezogen. Wir schätzen die Weite dieser Landschaft, die im Kontrast zu den Stadtbildern des Alltags steht. Hier schreibt das Thermometer sechs Grad, doch von nun an werden wir in den Süden fahren … Schnell verlassen wir die norwegische Tundra und gelangen an die finnischen Seen, wo wir ein sumpfiges Ökosystem vorfinden, dessen Gewässer unsere Gedanken beflügeln, während wir in die Pedale treten. Zur gleichen Zeit machen wir mit den ersten Mücken Bekanntschaft. Man kann nicht sagen, dass wir nicht gewarnt wurden, doch jetzt, als es an der Zeit ist, das Zelt aufzuschlagen, stehen wir unter großem Druck. Hunderte der fliegenden Blutsauger haben sich zu einer Willkommensparty zusammengefunden und fallen binnen Sekunden über uns her.
Wir entscheiden uns weiterzufahren und nutzen das Fehlen der Dunkelheit durch die „Mitternachtssonne“ in diesen nördlichen Breiten. Doch letztendlich klopfen wir an die Tür einer finnischen Großmutter kurz vor Schlafenszeit und fragen sie nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Trotz der glücklichen Wende haben wir unsere Lektion gelernt und wollen in Zukunft unsere Schlafunterkünfte besser planen, da wir jetzt wissen, dass mit jedem Stopp Zeit (und womöglich auch Blut) geopfert wird.
Die ersten Wochen ermöglichen es uns, uns zu orientieren. Als wir in Lappland in der Nähe des Inarijärvi, des Inarisees ankommen, essen wir herzhaft. Die Planung und das Management der Nahrung sind von entscheidender Bedeutung, da Versorgungsstellen bis zu 200 Kilometer voneinander entfernt liegen können. Manchmal fühlen wir uns so, als seien wir allein auf der Welt, da es weit und breit kein Zeichen menschlichen Lebens gibt. Wir treffen höchstens auf Rentiere, während wir ständig nach Bären Ausschau halten, ohne tatsächlich welche zu sehen. Wir sind weit weg von Zuhause und fahren sechs bis acht Stunden pro Tag. Den Rest des Tages verbringen wir mit dem Wesentlichen: Essen und Schlafen. Zusätzlich gönnen wir uns noch das Vergnügen, Fotos von diesen einzigartigen Situationen zu machen, in denen wir uns befinden. Erschöpft vom ewigen Abwehren der Mücken finden wir kurz vor der schwedischen Grenze eine Unterkunft, in der wir unsere Kleider waschen und im Warmen essen können. Der Holzofen läuft auf Hochtouren und wärmt unsere Zehen sowie unsere Herzen. Diese Unterkunft entpuppt sich jedoch als eine regelrechte Falle, da sie luftdurchlässig ist und rund zehn Mücken in regelmäßigen Abständen eindringen.
Gegen 3 Uhr morgens verlassen wir die Unterkunft und lernen, dass wir, egal was wir auch machen, hier immer einen Mückenschutz brauchen. Während der ersten Pause im schwedischen Jokkmokk kaufen wir Moskitonetze für den Kopf. Zwei Tage später genießen wir jeweils eine Pizza und einen Burger zum Mittagessen, denn wir haben eindeutig eine neue Dimension von Überlebenstaktik eingeschlagen, genießen dabei aber immer noch unser Leben. Jeden Tag machen wir Fortschritte, wobei wir das längere Tageslicht der Polarregion nutzen. Allerdings sind nicht allein die Mücken der Feind des Bikpackers: Da wäre noch der Wind und nach dem Wind kommt noch der Regen. Zwar sind unsere Schuhe nicht mehr trocken, doch lässt sich unser Geist davon nicht entmutigen. Dieser Regen bewirkt, dass die wenigen Flussüberquerungen, die wir unternehmen, noch eindringlicher erscheinen. Man sollte nicht die Natur fragen, wenn man mit der Antwort nicht umgehen kann.
Unsere Zeit in Schweden endet so, wie auch gemäß der offiziellen Route, in Göteborg, der zweitgrößten Stadt des Landes. Diese Dosis Zivilisation tut uns gut und wir feiern, dass wir diesen nördlichen Abschnitt von 2800 Kilometern (ungefähr 20 Tage) abgeschlossen haben, mit einem guten Bier. Auch stoßen wir auf das Ende unseres Kampfes mit den Mücken an. Doch wer hat den eigentlich gewonnen? Wir werden diesen nördlichen Teil der Tour immer als „das Land des Gravels in einem unendlichen Wald“ in Erinnerung behalten, wo Begegnungen mit dem Leben selten, aber dafür wunderschön sind. Dänemark ist flach und die Route bietet einen wunderschönen Abschnitt entlang der Nordküste. Die dänischen Unterkünfte sind zahlreich und gut gepflegt, obwohl sie manchmal vollkommen ausgebucht sind. Freunde kommen für eine Woche zu uns und wir campen, kochen und trinken am Lagerfeuer. Besonderer Dank gilt Max, der Morteau-Wurst (Saucisse de Morteau) mitgebracht hat. In Deutschland wird das Frühstück großgeschrieben. Dieser Abschnitt erlaubt uns, Städte wie Hamburg, Hameln und Köln zu entdecken.
Das Wetter wird besser, als wir die deutsch-französische Grenze erreichen. Die Vogesen und das Juragebirge sind herausfordernd und bergen technisch anspruchsvolle Abschnitte sowie signifikante Anstiege. So ist es nicht selten, dass wir unsere Räder schieben müssen. Das Tempo verlangt nach drei bis fünf Colas pro Tag. Nach einem energiezehrenden Anstieg erreichen wir den Skiort La Bresse und fahren einige Abhänge, bevor wir unser großes Biwakzelt am Lac de Blanchemer aufschlagen. Ein Festmahl aus Tipiak-Couscous, Wurst und Saint-Nectaire-Käse, der langsam in den Satteltaschen gereift war, erwartet uns. Einfach köstlich. Wir verschlemmen alles, bevor eine Nacht voller Gewitter einbricht, die einen unglaublichen Sound mit Lichter-Show anbietet und bis zum Morgengrauen anhält. Nach einer 48-stündigen Pause in Pontarlier, wo wir unsere Familie und Freunde wiedersehen, gelangen wir in den Jura und begeben uns auf eine Reise in die Vergangenheit, denn wir sind zurück auf dem Terrain unserer ersten Gravel-Tour, die wir vor drei Jahren bestritten hatten. Eine außergewöhnliche Biwakstelle erwartet uns in der Nähe von Crêt au Merle. Nachdem wir das Zelt aufgeschlagen haben, realisieren wir, dass wir uns auf einer Weide befinden. Ungefähr 14 Kühe kommen an und umringen das Zelt. Das wird eine lange Nacht, in der wir die Kühe essen hören, auch wie sie ihren Geschäften nachgehen und an Juliens Flip-Flops lecken, die aus dem Zeltvorbau ragen.
Der darauffolgende Tag ist ein besonderer Tag, denn wir nehmen uns den Grand Colombier vor. Dies bereitet uns großes Vergnügen und wir genießen eine weitere Cola sowie einen Crêpe am Gipfel. Wir nutzen die milden Temperaturen der großen Höhen, denn unten im Culoz-Becken erwartet uns eine Hitzewelle. Die Fahrt nach Valence bei 42 Grad ist ein unvergesslicher Bestandteil der Reise. Die Sonne versetzt uns einen heftigen Schlag, als wir das wahre Südfrankreich erreichen. Wir hören Grillen, riechen die Kiefern und Feigen; die Wege sind trocken und der Wind ist warm. Frankreich birgt einen magischen und tröstlichen Aspekt für uns, während wir die Tiefe der Ardèche und des Hérault entdecken.
Die Vielfalt der Landschaft ist beeindruckend. Um Perignan zu erreichen, müssen wir die Tramontane aushalten und gegen Winde von bis zu 20 Knoten anradeln. Nach Spanien hinein erwartet uns eine besonders hügelige Strecke, doch werden unsere Anstrengungen schnell belohnt. Jeder Tag, der vergeht, überrascht uns, so auch das unerwartete Grün Kataloniens samt seinen malerischen Dörfern, in denen wir immer ein Café und einen Bocadillo (reichlich belegtes Weizenbrötchen) finden können. Wir begegnen einigen Wildschweinen und Rehen. Unsere Körper sind inzwischen sehr erschöpft und doch sind sie diese Anstrengung mittlerweile gewöhnt. So werden die 10 Kilometer langen Anstiege mit einem durchschnittlichen Steigungsgrad von 10 % inzwischen durchaus geschätzt.
Juliens Kette springt immer wieder ab und wir müssen das ausgediente Pedal ersetzen. Das ist nicht einfach, doch rettet uns die katalanische Freundlichkeit in Gestalt des Besitzers eines Radsport-Cafés, der uns bei der Suche nach einem einzelnen Kettenblatt hilft, bevor wir uns in Richtung Granada zum Badlands Gravel Race aufmachen. Auf dieser Reise mussten wir beide bereits zweimal sowohl die Kette als auch die Zahnkranzkassette wechseln. Julien wechselte dreimal seine Bremsbeläge und brach zwei Speichen sowie ein Pedal. Nicolas hatte weniger Glück, da seine Pannen in relativ ungünstigen Situationen passierten. Die spanischen Pfade weisen eine große Variation in ihrer Topografie auf. Wir durchqueren Nationalparks, baden in den Schluchten und fahren durch die menschenleeren Landschaften der Serranía Celtibérica, die auch als keltiberisches Bergland oder „Spanisch-Lappland“ bezeichnet wird. Und wir essen auch weiterhin Bocadillos in diversen Cafés.
Wir lassen Cazorla hinter uns und durchqueren Weinberge und Olivenhaine, in denen wir auch einige Rehe sichten. Bald schon sind wir in Portugal, wo unartige Hunde den beiden vom Wetter gezeichneten Radsportlern Angst einjagen. Doch finden wir immer einen Weg, um mit unversehrten Waden zu entkommen. Die letzten Tage verbringen wir inmitten iberischer Schweinefarmen. Es ist schon etliche Wochen her, als wir das letzte Mal die See sahen, doch jetzt nähert sie sich wieder.
Achtzig Tage nach unserer Abfahrt in Grense Jakobslev kommen wir nahe Sagres inmitten von Volkswagen-Campern an – Surfern, die ihre Sessions beenden. Wir denken an all das zurück, was wir gesehen haben und was uns die Reise geboten hat. Die Landschaften sind extrem vielfältig. Europa ist schön und noch immer sehr wild an manchen Stellen. Das Ziel ist erreicht. Unsere Reise war weder ein Spaziergang noch ein ultimativer Ausdauertest, dafür aber ein Bikepacking-Abenteuer zweier Freunde.
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