SHAKE IT UP NR. 1: « 1HEURE - 5 KILOMÈTRES »

Irgendwann werden diese Lockdowns nichts weiter als eine schlechte Erinnerung sein. Vielleicht werden wir in ein paar Monaten über sie schmunzeln, wenn auch bitter-süß und uns an die Zeit zurückerinnern, als unsere individuellen Freiheiten für das Allgemeinwohl eingeschränkt wurden. Auch das Recht Rad zufahren ist auf eine Stunde und eine Distanz von maximal fünf Kilometern vom Zuhause eingeschränkt. Das ist keine große Herausforderung für ein Mädel wie mich. Ich bin es gewohnt lange Tage im Sattel zu verbringen.

Allerdings sind diese Beschränkungen für die einen viel schlimmer als für die anderen, denn hier in Nizza, selbst mit dem Spielraum von nur einer Stunde, erscheinen die Möglichkeiten endlos.

Es ist vorgesehen, dass bereits in einem Monat die Radrennsaison wieder aufgenommen wird. Der Schlüssel, das beste aus der Situation zu machen, ist deshalb die Intensität, also einen hohen Schwierigkeitsgrad in der unvermeidbar kurzen Zeitspanne zu fahren.

Mit den 500 Höhenmetern kann die klassische Route, die den Col d’Èze heraufführt für Radsportler allesentscheidend sein. Jedoch ist die direkteste Route für viele unbekannt und auch die ortsansässigen Fahrer, die diese Route kennen, scheuen sie zu meist. Mit einem Steigungsgradient von stellenweise 12 %, kann man es Ihnen nicht verdenken.

Ich verlasse das Café und fahre in Richtung ‚la Moyenne Corniche‘. Die ersten Steigungen führen mich bergauf und aus der Stadt heraus, wobei dies nur ein Vorgeschmack auf das ist, was noch kommt. Ich nehme die Route du Vinaigrier, um herauf auf den Col des 4 Chemins zu gelangen. Dies ist normalerweise eine Straße, die ich nur für die Abfahrt nutze und das auch nur, um die spektakuläre Aussicht über die See auf dem Weg nach unten zu genießen. Das letzte Mal als ich hier heraufgefahren bin, war im Sommer während Tour de France. Das Peloton befuhr die Grande Corniche zweimal, und bei all den abgesperrten Straßen war dies der einzige Weg zur Bergspitze. Das Recht, diesem besonderen Spektakel zuzusehen, musste erst verdient werden.

Doch zum Kern der Sache. Der erste Abschnitt ist steil, wird dann jedoch schnell steiler. Er ist lediglich 2 km lang, hat aber eine durchschnittliche Steigung von 10 % und oft genug liegt der Gradient weit über diesem Durchschnitt. Weiter oben hört ein Mann auf seine Hecke zu schneiden, um mich anzuschauen. Das, was ich hier mache scheint ihn zu verwundern. Er wirkt geradezu verärgert darüber, dass ich mir dies selber antue. Für ihn mag es unverständlich erscheinen wieviel Freude mit dem Schmerz einhergehen kann. Ich schaffe es zu lächeln, als ich an ihm vorbeifahre und er zeigt Gesten der Ermutigung. Zumindest fühlt es sich so an. Ein letzter Stoß in die Pedale, ein letztes Hauruck und ich bin auf der « Grand ». Achtzehn Minuten bis hierher – es fühlte sich länger an. Die Zeit verrinnt.

Die vorausliegenden 4 km werden kein Kinderspiel sein. Ich fahre lediglich zwanzig bis dreißig Meter auf der klassischen Col d’Èze Route, bevor ich nach links auf den wohl extremsten Weg, um den Mont Leuze zu erklimmen, abbiege. Mit nur wenigen Autos, die an mir vorbeifahren, ist es ruhig und ich fahre auf der Mitte des sonnengebleichten Asphalts.

Die Straße steigt wieder stark an und erinnert mich daran, dass dies der Zweck der Sache ist. Mich umgeben Steinwände gefolgt von den scharfen Biegungen und Wendungen der Serpentinen. Ich beiße die Zähne zusammen, stehe auf den Pedalen und erinnere mich erneut an den Zweck.

Der Körper mag schreien aber wie geht’s dem Geist? Beide sind gleichwichtig an diesem Punkt. Weiter und weiter, es sind nur 4 km. Höher und höher, nur 4 km. Schließlich zähle ich rückwärts mit einem Auge auf dem Zifferblatt und nur einem Atemzug von was auch immer entfernt. Vierzig Minuten bis hier, 50 Meter oberhalb des Col d’Èze auf dem Plateau de la Justice und ich erfahre ein neues Gefühl der Freiheit trotz des Lockdowns.

Keine Zeit bleibt zu erklären, dass die Seigneurs d’Èze einst diesen Platz aussuchten, um ihre Galgen zu errichten. Keine Zeit zu erklären, dass die Körper der Verurteilten am Wegesrand zurückgelassen wurden, wo sie Schicksalen entgegensahen, die weit schlimmer waren, als diese Route zu erklimmen. Keine Zeit von den Krähen zu erzählen und sich mit den Leistungen zu brüsten. Keine Zeit, keine Zeit, nur noch Zeit für die Abfahrt.

Mit einer Windjacke biege ich zum Südhang ab, der an manchen Stellen immer noch die Zeichen der Tour de France trägt. Freundliche Zeichen, die in bunter Farbe mit wackeliger Hand gemalt wurden: Namen der Champions, die diese Straßen befuhren, wie ich.

Durch die Kurven und dann vorbei am Schild mit der Aufschrift Nice, egal welchen Weg man einschlägt. Ich pausiere beim roten Licht der Ampeln und beeile mich bei grünem Licht, um 56 Minuten und 42 Sekunden nachdem ich abgefahren war, wieder am Café anzukommen. Es hört sich nicht gerade wie eine Tour an, wenn man es genau nimmt, jedoch war jede einzelne Sekunde bis zum Rand mit Erlebnis gefüllt. Jetzt geht es wieder zurück in den Lockdown mit einem Lächeln auf meinem Gesicht.

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