DIE ERKUNDUNG DES MORVAN MIT SOPHIE GATEAU

Der Morvan ist nicht leicht erklärt. Er ist ein Gebirgsmassiv und vielleicht eine Abnormalität, die im Zentrum der hügeligen Region von Burgund liegt und von Weingütern sowie Dörfern gesäumt wird, die aus einer anderen Zeit stammen. So gibt es hier mittelalterliche Zeugnisse in Hülle und Fülle. Der Morvan liegt zwischen vier französischen Départements, ist gleichzeitig der kleinste Distrikt in Frankreich und mag den Anschein zu erwecken, als sei er eine Festung. Er wird als ein unüberwindbares, himmlisches Mausoleum mit Resistance-Vergangenheit und als politisches Symbol der kulturellen Identität Frankreichs gesehen.

Aber das ist es nicht, was uns anlockt. Einen Ausflug in den Morvan zu unternehmen ist, als würde man in der Zeit zurückreisen, und für alle die, die den Radsport lieben, wartet eine Fundgrube voller Schätze darauf, entdeckt zu werden. Viele Radsportler finden heute zu dem abgeschiedenen, regionalen Nationalpark zurück, der relativ schlecht zugänglich und extrem ländlich ist. Noch dazu ist er für sein recht temperamentvolles Wetter bekannt. Dennoch ist der Morvan leicht von Paris oder Lyon aus zu erreichen und kommt einem kleinen Fleckchen Niemandsland im Herzen Frankreichs gleich.

Elise, Sophie und ich wissen bereits, dass unsere Regenjacken eine unverzichtbare Rolle an diesem Halloween-Wochenende spielen werden. Wie so häufig beginnt unser Abenteuer mit einem dieselbetriebenen Regionalzug, und das Erlebnis fängt an, sobald wir den Bahnhof verlassen. Mit seinen kurvenreichen Pflasterstraßen und den traditionellen Stein- und Holzgebäuden gilt Avallon als das städtische Zentrum des Morvan und als nördliches Zugangstor zum Massiv.

Von hieraus erstreckt sich das Zentralmassiv bis hinunter in die Mitte von Südfrankreich. Diese Hochlandregion mit ihren Bergen und ihren Hochebenen umfasst circa 15 % des französischen Festlands. Schon bald werden wir uns auf eine dreitägige Labyrinth-Reise begeben, die aus Gravel-Pfaden besteht, die durch dichte Kiefernwälder führen, sowie aus sich windenden verlassenen Straßen, die oft mit einem Streifen Moos, Laub oder einer feinen Schicht Wasser bedeckt sind. Der Platzregen auf der Hotelveranda während des Frühstücks an unserem ersten Tag bestätigt unsere schlimmsten Befürchtungen. Wir gönnen uns einen weiteren Espresso, um uns Mut anzutrinken und gehen dann den ersten Kilometer an, mit dessen Bewältigung man sich oft am schwersten tut.

Lormes, Kilometer 30: So verrückt es auch scheinen mag, der Morvan ist oft noch reizvoller bei schlechtem Wetter. Unsere ersten Anstiege sind kurz, aber dafür steil mit Steigungen von bis zu 20 %. Die Abgeschiedenheit und die Einsamkeit fühlen sich herrlich an, und sie werden sich im Laufe des Wochenendes nur noch steigern. Recht selten sieht man überhaupt Dörfer und es scheint geradezu so, als seien die winzigen Straßen mit künstlerischem Hintergedanken in die Landschaft gezeichnet worden.

Wir machen an einem Bistro halt, in dem viel los ist und in dem alle, die hier leben, sich kennen. Dann fahren wir gut gesättigt und hochmotiviert weiter und nehmen unsere ersten Gravel-Abschnitte in Angriff, von denen ein paar durch den vorherigen Regen abgeflacht wurden. Als wir uns dem zentralen Bereich des Morvans nähern, bemerken wir, dass wir entlang künstlich geschaffener Seen fahren, die im 19. Jahrhundert geschaffen wurden, indem man die Nebenflüsse der Flüsse Yvonne und Cure gestaut hatte.

Es regnet wieder, jedoch ist das jetzt nicht so schlimm, wie wir befürchtet hatten, und nach dem Regen ist die Landschaft in einen hübschen Nebel gehüllt. Wir kommen an den winzigen Dörfchen mit den wohlklingenden Namen Procmignon und La Chaume vorbei, bevor wir die Kommune Brassy erreichen, in der wir uns unseren täglichen Snack gönnen. Wir sitzen im einzigen offenen Restaurant und genießen die Brise. Noch haben wir drei weitere Anstiege zu bewältigen, von denen die auffälligste zum Ortszentrum von Ouroux-en-Morvan führt. Wenn wir hierhin gekommen wären, um die schönste Aussicht zu finden, wäre dies zweifellos der symbolträchtigste Ort. Wir können kaum die Fassaden der Gebäude sehen, und die wenigen Autos, die es wagten vorbeizukommen, verdienen ihren Platz in jedem Hitchcock-Roman. Nicht mal ein Meter Ebene, und wir genießen die prachtvollen und abgeschiedenen Straßen, die sich an der Bergseite hinaufschlängeln.

Nach einer beschwerlichen Nachtruhe im Château Chinon, stehen wir kurz davor den bedeutendsten Brocken des Wochenendes anzugehen. Ein großer Teil davon ist asphaltiert. Wir benötigen fast eine ganze Stunde, um den südlichen Teil des Morvan über die sich windende Route zu erreichen, die uns zurück in den Nord-Osten zu einem der schönsten Gravel-Abschnitte der ganzen Reise bringt und ungefähr 700 m über dem Meeresspiegel verläuft. Wir haben diese atemberaubenden Gravel-Pfade ganz für uns allein und sie führen uns an La Socrates Marquis vorbei, dem Hauptquartier der Résistance Morvandelle im zweiten Weltkrieg. Bei Haut-Folin erreichen wir den höchsten Punkt des Morvan mit über 900 Höhenmetern. Zurück auf der Gravelstrecke bietet uns der Berghang ein Labyrinth aus Langlaufloipen, die geradezu für unsere Räder geschaffen scheinen, während wir diese wieder und wieder bis an ihre Grenzen testen.

Wir sind glücklich aber erschöpft. Der härteste Part liegt noch vor uns: der Mont Beuvray – eine große physische Anstrengung mit scheinbar unpassierbaren Steigungen, mit einem prachtvollen Panorama über keltische Ruinen und einem unheimlich aussehenden Dickicht. Der Anblick ist beeindruckend. Dagegen begeistern uns die dunklen Wolken, die sich vom Westen aus nähern, weniger. Allerdings überstehen wir auch das und erreichen den Kurort Saint-Honoré-Les-Bains, der sich unauffällig hinter dem Morvan versteckt und für seine Heilkräfte bekannt ist. Der herzliche Empfang verstärkt die guten ersten Eindrücke, die wir erhalten, als wir den wohl einzigen Pizzaflohmarkt von Frankreich betreten. Im Fernsehen läuft ein Horror-Film von Tim Burton, der uns kaum ein besseres Halloween-Gefühl auf unserer Reise vermitteln könnte, wenn wir ihn ansehen würden.

Den Morvan als einen Ort zu beschreiben, in dem die Zeit eingefroren ist, würde ein falsches Bild abgeben. Wir diskutieren das, während wir am letzten Tag der Tour diesen besonderen Platz verlassen und seine kurvenreichen Ausläufer erklimmen, um das Nivernais zu erreichen, das uns bis an die äußersten Ränder des Loir-Tals führt. Wie jedes Mal, wenn wir so ein Paralleluniversum betreten, kommt tief in unserem Herzen der Wunsch auf, diese spezielle Lebensweise mit samt ihrer natürlichen Umgebung, mit dem unglaublichen Sinn für Solidarität und den herzlichen Begrüßungen zu bewahren. Ist das vielleicht etwas klischeehaft? Das mag teilweise stimmen, allerdings sind wir ja auch nur auf der Durchreise. Die Tatsache bleibt bestehen, dass die Zeiten sich ändern, und doch scheint diese Region darin Erfolg zu haben, sich selbst treu zu belieben und sich vor all den Problemen dieser Welt, die wir momentan haben, sicher zu verstecken. – Natürlich bat uns diese Region auch einen grenzenlosen Abenteuerplatz für den Radsport.

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