FOR 10% OFF YOUR FIRST ORDER

Stilfser Joch: Montagnes du monde #5

„Ich bin jetzt gerade am Pass und dieser Platz ist hässlich.“ Ein gewisser Fotograf hat dies einst gesagt. Er lebt in den Bergen, er arbeitet (meistens) in den Bergen und er ist ursprünglich ein Mountainbike-Fahrer. Folglich kennt er sich mit Bergen aus.

Stellenweise hat er wohl recht. Es gib einen Teil des Stilfser Jochs, der voller Hochspannungsleitungen ist, die auf den typischen stählernen Strommasten ruhen. Hier hört man nicht gerade einen musikalischen Klang, jedoch manchmal einfach den Sound eines Superbikes oder Superautos. Es ist nicht unbedingt das, was die Internetrecherche Ihnen zeigen wird.

Stilfser Joch: Montagnes du monde #5
Stilfser Joch: Montagnes du monde #5

Fragen Sie jeden Radsportler, ob Profi oder Amateur, und alle werden Ihnen wohl das Gleiche sagen: Dieser Anstieg ist hässlich - zumindest im Sinne der Anstrengung, die dafür erforderlich ist. Er ist Europas dritthöchster Pass und misst eine Länge von 22km bei einer Steigung von durchschnittlich 7,1%, was wirklich keine Überraschung ist.

Trotzdem haben Menschen seit der Bronzezeit diesen Pass durchquert und sie kommen Jahr für Jahr wieder. Vor allen Dingen wegen der Serpentinen, aber auch wegen der Geschichten.

Seitdem der Radsport ein weltweites Phänomen wurde, hat sich das Stilfser Joch seinen Platz in der Geschichte dieses Sports erobert. Es ist der originale und höchste Cima Coppi (der Preis, der für die Bezwingung des höchsten Anstieges auf Italiens großer Tour verliehen wird) in der Geschichte des Giro d‘Italia.


Stilfser Joch: Montagnes du monde #5

Von Bormio aus benötigt man schon eine wilde Mischung an Kletteranstrengungen. Die unteren Hänge erfordern noch einen milden Antritt, während sich die Straße durch mittelhohe Bäume und Büsche Schlängelt. Dann jedoch erreicht man eine Serie von Tunneln, auch dieser Countdown durch die 35 Spitzkehren verläuft relativ relaxt.

Sobald man von den Tunneln wieder ins Tageslicht fährt, beginnt der Hauptteil der Serpentinen, das schönste Stück des Anstieges ausgehend von Bormio. Man fährt durch die Schlucht hoch zu dem Wasserkraftwerk und gelangt schließlich zu diesem perfekten Satz Haarnadelkurven.

Neben dem, was man vielleicht, vielleicht auch nicht, als „hässlichen“ Gipfel bezeichnen könnte, liegt diese strahlende, brillante Schönheit.


Stilfser Joch: Montagnes du monde #5

Nach den Spitzkehren fährt man weiter durch ein Tal neben einem Bach nach oben. Es ist schön, allerdings ist es offen und deshalb ziemlich gnadenlos, wenn die Sonne scheint. Wenn Sie aus dem Tal emporsteigen, biegen Sie an dem alten Zollhäuschen scharf nach rechts ab. Nach links sind es nur 200m bis zur schweizerischen Grenze, und Sie beginnen das Hochplateau zu attackieren.

Das ist der eigentlich „hässliche” Part mit offenem Fels und die Biegungen der Straße sind nicht wirklich so eng, dass es Spaß machen würde. Sie sind einfach nur modern und ein wenig langweilig. Das Plateau wird von Hochspannungsleitungen durchkreuzt, die von gigantischen Stahlskeletten gehalten werden. Dies ist kein abgelegener Berggipfel und man muss ihn mit denjenigen teilen, die mit Motorkraft hierhin gelangt sind.


Stilfser Joch: Montagnes du monde #5

Diese anderen Besucher haben vielleicht nicht den Endorphin-Kick oder sie schätzen wahrscheinlich die Radsportgeschichte nicht, die hier geschrieben wurde.

Die Meteorologie des Passes hat fast immer eine Hauptrolle in den schriftlichen Aufzeichnungen gespielt. Der Schnee wurde erst am Vortag geräumt, als Fausto Coppi bei der ersten Passage sich und den Berg permanent in die Radsportgeschichte des Giro d’Italia einschrieb. Das Bild von “Il Campionissimo”, der sich beim Giro von 1953 einsam den Weg durch die Schneemauern bahnte wird für immer in Erinnerung bleiben. Und diese erste Passage über den Berg wurde durch den Cima Coppi Preis unsterblich gemacht.


Stilfser Joch: Montagnes du monde #5

Weil er der höchste Punkt ist, der jemals bei der Giro d’Italia durchquert wurde, führt dies seine eigenen Komplikationen mit sich. Das Stilfser Joch hat eine Geschichte von Aufschüben und Absagen aufgrund schlechten Wetters hinter sich, und das wird durch den Fakt bestätigt, dass dieser Pass tatsächlich nur 12 mal seit seiner Einführung 1953 Teil des Giro d’Italia war.

Bei diesen Höhen öffnet sich das Zeitfenster der Möglichkeiten im späten Mai oder frühen Juni und schließt sich irgendwann im September oder Oktober wieder. Es erhöht Vorfreude und Vergnügen, wenn die Schneepflüge das Weiß hinwegkratzen und der dunkle ebene Asphalt zum Vorschein kommt.


Stilfser Joch: Montagnes du monde #5

Das Stilfser Joch ist nicht nur ein Anstieg, ee ist auch Vorläufer einer Talfahrt, die genauso hart ist, wie der Weg nach oben und an der Rennen gewonnen und verloren werden können. Bernard Hinault und Jean-René Bernaudeau entschieden sich den Sieg vor die persönliche Sicherheit zu stellen, um das Maglia Rosa zu erlangen.

Und vor weniger als vier Jahren spielten die Talfahrt und das Wetter wieder eine destruktive Rolle. Als die mittlerweile berüchtigte Kommunikation über den Rennfunk versuchte das Rennen nach unten zu kontrollieren, aber nicht zu neutralisieren. Drei Fahrer, inclusive dem Titelverteidiger Nairo Quintana, rasten bereits die Trafoi Spitzkehren hinunter in völligem Unwissen darüber, welch Schauspiel sich am Gipfel abspielte. Viele Teilnehmer des Hauptfeldes glaubten, das Rennen sei annulliert, stoppten und wickelten sich in so viel Außenbekleidung wie nur möglich.


Stilfser Joch: Montagnes du monde #5

Ob man nun auf dem Gipfel anhalten will oder nicht, ist eine Frage des Geschmacks. Die Spitze des Passes ist flankiert von funktionsfähig aussehenden Hotels, Kiosken und Fastfood-Restaurants, die Wurst verkaufen.

Aber, wenn man hinaufschaut, sieht man das Refugio Garibaldi. Es wurde in den 60igern neben den Ruinen des Schweizer Hotels, das im ersten Weltkrieg zerstört wurde, errichtet und ist eine Feier der Bergkultur. Und deswegen kommt jedermann, vom Motorradfahrer bis hin zum Sportwagen Enthusiasten hierhin, selbst Mountain Bike fahrende Fotografen.

Ja, der Pass an sich ist wohl eher nicht der schönste, allerdings vergisst man dabei die Reise durch die Schönheit der Umgebung darunter.


Lesen Sie mehr über die bedeutendsten Anstiege der ganzen Welt in unserer Rubrik Montagnes du Monde .




Fotografie: Matt Wragg