Der Erfinder der Seealpen
In Saint-Étienne-de-Tinée am Fuße des Col de la Bonette gibt es eine Straße, die Boulevard Victor de Cessole genannt wird. Östlich davon, hinter den Bergen in Tende findet jeden Februar ein alpiner Skiwettbewerb statt, der „Trophée Victor de Cessole“ genannt wird. Der Ort ist umringt von Gipfeln, die die Grenze zu Italien bilden. Zwischen diesen beiden hochgelegenen Dörfern können Sie zum Refugium Victor de Cessole gelangen, das auch als das Refuge de Nice bekannt ist, wenn Sie das Gordolasque Tal heraufwandern. Zurück in der Stadt, an der Promenade des Anglais können geschulte Augen neben dem berühmten Hotel Negresco die Bibliothèque du Chevalier Victor de Cessole finden.
Wer aber ist Victor de Cessole? Die Antwort: Er ist der „Erfinder der Seealpen“.
Cessole ist eine Person, die durch das Erkunden der Berge der Seealpen Ruhm erlangt hat. Diese Berge bilden die letzte Kette der südlichen Alpen, bevor sie im Meer verschwinden.
Er war Aristokrat und ist in Nizza geboren und aufgewachsen. Seine privilegierte Ausbildung ging nicht an seinem wissbegierigen Geist verloren, und so brillierte er in allem, was er anfing, von seinen Studien des Rechts bis zur Botanik. Zur Behandlung seiner Rheumaerkrankung verschrieb ihm sein Arzt frische Luft und sportliche Betätigung und schickte ihn nach Saint-Martin-Vésubie, als er 40 wurde.
Er erkor das Refugium La Madone de Fenestre zu seinem Basislager, das 10 km talaufwärts in östlicher Richtung von Saint-Martin-Vésubie liegt. Die Sackgasse, die von dem Dorf zum Refugium am Ende des Weges führt, wird heute Boulevard Chevalier de Cessole genannt. Wenn Sie noch nicht da waren, dann müssen Sie es besuchen. Es liegt im Schatten des Cime du Gélas, des höchsten Gipfels der französischen Seealpen, an einem Ort der sich durch zwei Worte beschreiben lässt: alpine Schönheit.
Cessole war begeistert und inspiriert und seine 30 Jahre lange Forschung begann. Er wanderte, er kletterte, machte Notizen, fotografierte, zeichnete Karten und grübelte Pläne aus. Er trat dem Club Alpine Français (CAF) bei, der erst 20 Jahre zuvor gegründet wurde, um Tricks zu lernen sowie das Handwerk des Alpinismus. Getrieben durch seine Passion und einen unersättlichen Erkundungshunger, dokumentierte er sein Alpengebiet. Er wurde schließlich Präsident des regionalen Abschnitts des CAF.
Zusammen mit seinen Mitstreitern ließ er Refugien errichten und baute die Schutzhütten der Hirten zu Basislagern aus, um die Gipfel zu vermessen.
Diese Gipfel erreichten Höhen bis über 3000 m. Die drei „größten“ waren der Gélas, der Malédie und der Clapier. Der Malédie war eine seiner Herausforderungen als Cessole sich selbst höher und höher trieb, um als erster den Gipfel zu besteigen. Andere bemerkenswerte Erstbesteigungen seinerseits waren der Westliche Wall des Agentera und der Corno Stella 1902. So erlangte er Ruhm in der internationalen Bergsteigergemeinschaft. Bis zum Schluss eröffnete er beinahe 200 neue Routen und machte damit ebenso viele Berge in den Seealpen zugänglich.
Seine Aufzeichnungen von den tausenden Forschungswanderungen zu lesen, gibt einem das Gefühl Schritt für Schritt und mit sämtlichen Sinnen dabei zu sein. Es ist beinahe zu viel. Mehr zugänglich sind seine mehr als 10 000 Fotografien. Ähnlich wie beim Radsport und bei Instagram hielt auch Cessole die Fotographie für das beste Medium, und sie war stets Teil seiner Expeditionen.
Über mehr als 30 Jahre, von 1896 bis 1927, machte Cessole mehr als 10 000 Fotografien. Ganze 7 200 davon waren den Expeditionen gewidmet. Sie sind alle nummeriert und mit Datum sowie Überschrift versehen. Die große Mehrheit der Fotos zeigen die Mineralien der Berge, ihre Reinheit und Härte, ihre Gipfel und Kämme, Geröllhalden und Schneefelder oder aber die Belohnung des Bergsteigers: die Aussicht vom Gipfel, der Beweis des Sieges. Dies machte seine Notizen lebendig und war eine perfekte Illustration der Landschaften und zeigte die Schwierigkeiten die Bergspitzen zu vermessen.
Aber nicht nur durch die Fotografie brachte Cessole den Leuten die Seealpen näher. Wahrscheinlich war es die Kombination seines akademischen Hintergrunds und der schieren Begeisterung nach jeder erfolgreichen Expedition, die sein Bedürfnis antrieb, sein Wissen und seine Erfahrungen zu teilen. Er half nicht nur, die vorher unvermessenen oder unentdeckten Gipfel der Seealpen zu benennen und zu kartieren, sondern er ließ auch die Mitgliederzahl des Lokalen Club Alpine Français auf über 500 wachsen. Er organisierte ganze „Schul-Karawanen“, um die heranwachsenden Kinder in die Berge zu bringen, und mit Hilfe der Armee veranstaltete er die ersten Skirennen auf Pisten und Bergspitzen zwischen Piera-Cava und dem Camp d’Argent - unterhalb und oberhalb unseres geliebten Col de Turini.
Zu sagen, dass Cessole ein Vermächtnis hinterlassen hat, wäre eine Untertreibung. Wenn Sie hoch in die Seealpen fahren, werden Sie hölzerne oder gelbe Wegmarkierungen am Straßenrand bemerken. Das Netzwerk von Wanderwegen ist eine Goldmine für die Liebhaber von Outdoor-Sportarten, und diese Wege bereitete der Pionier Victor de Cessole. Er ruht jetzt auf dem Friedhof zu Fuße von Nizzas Burg. Allerdings sagt man, dass seine Seele stets präsent in den Bergen bleibt. Vielen Dank Victor!
Wir danken der Bibliothéque Chevalier de Cessole für die Bereitstellung und die Autorisierung Kopien der originalen Fotografien benutzen zu dürfen, die von Cessole und seinen Mitstreitern gemacht wurden.