Kein Weg nach Hause: Bikepacking im Balkan

2020 durchquerten wir einen Teil der Alpen und den Vercors. Letztes Jahr durchquerten wir die Pyrenäen und schwammen 12 Tage später im Atlantik. Bikepacking-Abenteuer sind scheinbar eine Sommerattraktion geworden, und so wählten Audrey und ich in diesem Jahr etwas außerhalb von Frankreich. Seit dem Audrey auf einer viel zu kurzen Reise den Balkan erblickt hatte, träumt sie von einer Wiederkehr.

Für mich ähnelt der Balkan einer Mischung aus der Szenerie aus Tim und Struppis „König Ottokars Zepter“ und den ersten Seiten aus „Die Erfahrung der Welt“ von Nicolas Bouvier. Ich brauche einen Hauch von Symbolik, um mir die Reise vorzustellen.

Wir werden von Kalamata in Griechenland aus starten, wo ich ein paar meiner tiefsten Tauchgänge unternommen hatte und vor 11 Jahren den Weltmeistertitel erhielt. Wir sehen uns die Route auf der Karte an, die uns in nordwestlicher Richtung nach Albanien leitet, wo wir die Fähre nach Italien nehmen werden.

Ich fange an mir vorzustellen, wie wir den gesamten Weg zurück nach Nizza bestreiten werden. Allerdings haben wir lediglich vier Wochen dieses glühend heißen Sommers mit vollbeladenen Fahrrädern, um dieses Wanderleben auszukosten. Audrey ist realistischer: „Wir fahren, so weit wir können.“

Die ersten Tage sind wie immer dazu bestimmt, unseren Rhythmus zu finden und unsere mit dem Gepäck beladenen Drahtesel zu zähmen. Audrey vertraut auf die traditionellen großen hinteren Fahrradtaschen, während ich mich an die Konfiguration mit sechs unterschiedlichen Taschen wage, die über den gesamten Rahmen verteilt sind. Wir schließen die ersten Etappen über die bergige Peleponneshalbinsel mit durchschnittlich 90 km pro Tag ab. Unser Hauptgegner ist die Hitze. Dementsprechend passen wir unseren Zeitplan jeden Tag an. 4:30 erfolgt der Weckruf. Dann fahren wir bis 12 Uhr mittags. Wenn Herz und Beine es zulassen, fahren wir für zwei weitere Stunden gegen Ende des Tages, während die Sonne untergeht.

Wir benötigen sechs Tage, um nach Ioanina zu gelangen, der letzten griechischen Stadt vor Albanien. Nach unserer Entdeckungstour durch Griechenland, wird uns für immer die Nacht in Erinnerung bleiben, in der wir angelehnt an einer Kapelle am Berghang schliefen sowie die Überquerung des Golfs von Korinth auf der monumentalen Rion-Antirion Brücke, die einst die längste Schrägseilbrücke der Welt war. Ebenso werden wir weder die späte Ankunft in den Straßen der lebhaften Stadt Mesolongi noch meinen Sturz auf den Steiß an Audreys Geburtstag in einem Vorort von Arta vergessen. Auch die spontanen Nickerchen auf den gekachelten Böden der Dorftavernen oder die griechischen Salate auf jeder Speisekarte bleiben tief im Gedächtnis. Wir schlafen viel, besuchen eine Citadelle, Audrey lässt sich die Haare schneiden und wir beide schlucken Wasser literweise, in das wir Elektrolyte auflösen, um unseren Mineralienhaushalt wieder auszugleichen.

Wir fahren wieder los und kommen schon bald an der Grenze an. Ein letztes Mal saugen wir die griechischen Aromen in uns auf und rufen ein deutliches „Kaliméra“(Guten Morgen) und „Efcharistó“(Danke) zu allen und jedem. ‚Albanien - hier kommen wir.‘ Manchmal ist das Überschreiten der Grenze lediglich eine Formalität, und nur die plötzlich andere Anordnung der Buchstaben auf den Werbepostern macht es möglich, das zu verifizieren. Dieses Mal trügt uns die Landschaft nicht. Die Einreise nach Albanien erfolgt über das Herzstück eines weiten und ausgedörrten Tals, das von gewaltigen Berghängen mit gleichmäßigen Kämmen begrenzt wird. Es scheint als sei alles von der Sommerhitze erschlagen, und auch wir fühlen sie bis in unsere Knochen. Alles Grüne ist durch die Sommerhitze vergilbt, und alle Autos fahren in Richtung der albanischen Riviera. Folglich entscheiden wir uns, in die Berge zu fahren, um verlassene Straßen anzutreffen und hoffentlich auch ein wenig Frische.

Am nächsten Tag essen wir in einem Restaurant in Këlcyrë zu Mittag, nachdem wir am Morgen entlang eines sich weit schlängelnden Flusses fuhren. Da unser GPS uns empfiehlt, die SH74 zu meiden, obwohl sie auf der Karte eindeutig als Hauptverkehrsstrecke gekennzeichnet ist und spektakuläre Landschaften verspricht, fragen wir die den Geschäftsführer, bevor wir das Restaurant verlassen. - „No good!“ Wir prüfen dies noch einmal im Internet (Es erschien uns notwendig, eine spezielle Seite, die auf die gefährlichen Straßen der Welt spezialisiert ist, aufzurufen.) und in der Tat ist diese Straße überhaupt nicht gut. Das stellt uns vor eine schwierige Entscheidung: Entweder fahren wir zurück und nehmen die große Nationalstraße – diese würde uns innerhalb von drei Tagen durch Albanien leiten, und wir würden dann mit der Fähre nach Italien übersetzen (eine Option, die unsere winzige Hoffnung, nach Nizza per Rad zu gelangen, noch etwas länger überleben lassen würde), oder aber wir wählen den Abzweig über die Straße SH75, die uns zu den vergessenen Orten von Albaniens Bergen bringen würde.

Diese Wahl eröffnet uns das Unerwartete, die Verlassenheit, die einer der geographischen Zwecke unsere Reise ist. Wir fühlen uns befreit, unsere Pedaltritte erscheinen müheloser und unser Gepäck leichter. Das Abenteuer konzentriert sich auf seine pure Essenz: das Unbekannte. Ich fange an, mir vorzustellen, dass unsere Tour uns in die dunkelsten Tiefen des Balkans führen könnte, während Audrey überglücklich über diese Richtungsänderung ist. Wir brauchten lediglich 10 Tage, um uns auf die Reiseroute zu einigen.
Wir lernen die Seele des Landes kennen und gehen Gelände an, das uns die Nuancen des Radsports in freier Natur sowie die breiten Reifen unserer Gravel-Bikes schätzen lässt. Wir unternehmen eine kurze Spritztour nach Mazedonien und eine weitere in den Kosovo. Jedes Mal fahren wir nach Albanien zurück, das den roten Faden unserer Reise darstellt.

Wir nähern uns der Grenze zu Montenegro in den Albanischen Alpen. Das wohlgeformte Relief der Berge strengt uns sehr an. Doch schließlich erreichen wir wieder das Mittelmeer, das wir fast vergessen hatten.

Drei Wochen sind vergangen mit mehr als 1400 Kilometern, die auf unserem Display angegeben werden, und hier neigt sich unsere Reise dem Ende zu. Eigentlich wollten wir Nizza auf dem Rad erreichen. Später war Rom und dann Montenegro unser Ziel. Doch schließlich wurde Durrës der Schlusspunkt unserer Reise.

In Durrës liegt der wichtigste Hafen an der albanischen Küste, in dem die Fähren nach Italien ablegen. Diese obligatorische Passage galt lange als Bindeglied zwischen den zwei Fasen unserer Reise. Als wir in Albanien ankamen, hätten wir bereits in drei Tagen hier ankommen können, und es tut uns im Herzen weh, nicht mit dem Rad durch Italien fahren zu können. Allerdings hätten wir dann dieses intensive, warme und vielseitige Land, das in der Landessprache „Shqipëria“ genannt wird, vollkommen missachtet. Indes scheint die Innenstadt im Herzen von Durrës recht wohlhabend zu sein. Doch haben wir lediglich Zeit, um an einem Minimarkt halt zu machen, um ein paar Getränke und andere örtliche Süßigkeiten für die 17-stündige Fahrt mit der Fähre und die anschließende 10-stündige Zugfahrt nach Hause zu erstehen.
Wir können es kaum erwarten, zu erfahren, wohin uns das Abenteuer des nächsten Sommers verschlagen wird.

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