Der Sprint zwischen zwei Vulkanen

Vier Tage, sieben Stunden und sechs Minuten.

Das ist die exakte Zeit, die ich gebraucht habe, um die 1100km und Anstiege von insgesamt 22 000m des letzten Bikepacking-Rennens der Saison zu bewältigen. Wenn man darüber nachdenkt, ist das nicht lang verglichen mit der unglücklicherweise freigewordenen Zeit in diesem Jahr. All die anhaltenden Zweifel, all die abgesagten und verschobenen Wettbewerbe, all die Öffnungen und Schließungen von Grenzen ließen diese vier Tage irgendwie kurz erscheinen.

Aber dennoch war die Tour lang und natürlich auch intensiv, ein fantastisches Rennen zusammen mit einer Besetzung aus internationalen, erfahrenen Fahrern, das größtenteils das hielt, was es versprach: große Vulkane, außerordentlich gute Kaffees und eine ganze Bandbreite an meisterhaften Pizzas.

Neapel ist so lebhaft wie jede Schmelztiegel-Metropole und der Ausgangpunkt für eine chaotische Fahrt, um dem Trubel über die Vororte zu entrinnen. Man fährt zwischen Müllhaufen und auf unförmigen, regennassen Pflastersteinen bis man schließlich im kleinen Städtchen Ercolano ankommt, dem ‚richtigen‘ Startpunkt am Fuße des Vesuvs.

Ercolano ist ein ruhiger Ort mit guten Restaurants, die alte Freunde wieder zusammenbringen. Die Registrierungsprozedur und ein interessantes „Pizza Briefing“ erinnern uns an das bevorstehende Abenteuer. Um mich herum befinden sich berühmte Radrennfahrer, berühmt zumindest in dieser Welt, in der sie die Likes von James, Sofiane, Ulrich, Fanny, Adrien, Omar und vielen mehr bekommen haben. Alle von ihnen sind fähig das Rennen zu gewinnen. Alle von ihnen befinden sich konstant in den Top Ten. Allerdings sind die, die sich im Mittelfeld und in der Nachhut befinden, genauso interessant. Es gibt viele bekannte Gesichter, Fahrer mit denen ich bereits etliche Transkontinental-Rennen und andere Langstrecken-Abenteuer „geteilt“ habe. Das Rennen zwischen den Fahrern verspricht eng zu werden. Die Spannung steigt langsam, allerdings auf eine gute Weise, die Weise, die einen anspornt vorwärts zu kommen und alle unvermeidlichen Hindernisse zu überwinden."

Beim Aufbruch ist es immer noch dunkel. Der Vesuv ist ein relativ einfacher Anstieg, jedoch fängt das Peloton schon beim zweiten Anstieg am Monte Faito an, sich ein bisschen auszudehnen. Hier werden keine halben Sachen gemacht. Es herrscht ein hohes Tempo von Anfang an, und die Lücken zwischen den Fahrern sind ziemlich klein. Nur ein kurzer Stopp, um die Trinkflasche aufzufüllen kostet 6 bis 7 Plätze, die man wieder aufholt, wenn die anderen Fahrer eine Pause machen. Dieses „Jo-Jo“ der Platzierungen hält sich über die ersten 24 Stunden konstant und kommt am zweiten Tag schließlich zur Ruhe. Die ersten Ausscheidungen kommen schnell, nehmen dann aber ab. Diejenigen, die bis weit in den zweiten Tag durchhalten, werden es fast alle bis ins Ziel schaffen. Für mich ist das ein Signal für ein schönes Abenteuer und ein Zeichen auf welchem Niveau sich die Teilnehmer befinden. Ausgenommen sind ernste Unfälle. Wenn man sich einmal in Gang setzt „darf man sich nicht kratzen“.

Ich hatte Kalabrien romantisiert, sehr stark, vielleicht zu stark.
Ich hatte ein unregelmäßiges raues Gelände erwartet, eine physisch harte Herausforderung für den Körper. Jedoch hoffte ich, dass ich durch charmante Straßen, einladende Cafés alle 10km und genauso viele Pizzerias entlohnt werden würde.
Nun, dem war nicht ganz so.

Kalabrien ist offensichtlich eine wunderschöne Gegend mit kleinen Straßen, die sich scheinbar endlos durch das Massiv schlängeln und gelegentlich zu Dörfern führen, genau wie ich es mit vorgestellt hatte. Jedoch ist die Atmosphäre rau, ärmlich und stellenweise schmutzig. Streunende Hunde, die zwischen umgekippten Mülltonnen umherziehen, schicken sich an Radfahrer zu jagen. Auch das Virus hat hier seine Spuren hinterlassen, sodass nur wenige Restaurants geöffnet haben. Pizzas stehen nur abends auf der Speisekarte.

Dennoch gibt es örtlich freudige Momente, wenn man sie am wenigsten erwartet. Es ist bereits Oktober und trotzdem herrschen milde Temperaturen und die Sonne scheint. Allerdings hat man mit der hohen Luftfeuchtigkeit zu kämpfen sowie mit dem Wechsel zwischen heiß und kalt, abhängig davon ob man klettert oder herunterfährt. Die endlosen Anstiege sind allmählich demoralisierend und können jemanden in eine Art Melancholie versinken lassen. Der latente Feind mit dem Namen „Zweifel“ tritt auf. Es ist allen Bikepacking-Fahrern bekannt, dass dies jeden zermürben kann. Das Gegenmittel ist einfach sich weiter zu zwingen und alles Positive auf dem Weg zu genießen.

Alles was man erklimmt, kann man wieder herunterfahren. – Und die Hunde? – Die veranlassen einen schneller zu fahren. - Die Feuchtigkeit? – Ich hatte „ein bisschen zu viel“ Kleidung mitgenommen, die letztendlich komplett gebraucht wurde, nicht zu vergessen: die Panini-Köstlichkeiten. Einer zum Essen und der zweite in die Tasche für nachher. Das wurde schnell zur Angewohnheit. Und was den Kaffee angeht, so sind oftmals die Einheimischen gerne bereit Kaffee anzubieten, wenn die Cafés geschlossen haben.

Dann ganz plötzlich, am Ende des dritten Tages und der letzten Teilstrecke auf dem italienischen Festland, kommt endlich auf ungefähr 1000m Höhe die See wieder in Sicht. Das ist tiefer als das letzte Mal als wir das Meer gesehen hatten. Mit atemberaubender Geschwindigkeit geht es Vollgas herunter zur Meerenge von Messina, zur Fähre und dem lang ersehnten Versprechen nach Sizilien zu gelangen.

Zwei Arancinis und drei Sodas – um mehr auf der Fähre zu kaufen, fehlt mir die Zeit, denn ich muss die erste Strecke der Insel sofort nach der Ankunft in Angriff nehmen. Ich habe mich entschlossen, die andere Seite der Insel zu erreichen, bevor es dunkel wird. Dann ein paar Kilometer der See entlang in den Abend hinein, bis ich die letzten Massive unter der Nacht erreiche. Der ganze Weg bis zum Schluss – fast.

Alles war da: Das Licht, die Dörfer belebt, sofern die Bewohner wach waren, die Anfeuerungen während des Aufstiegs zum Vulkan, der seit ein paar Tagen grollte und komischen Rauch ausstieß und den Betrachter demütig werden lässt. Er ist da, orange gefärbt von den ersten Sonnenstrahlen und dann rau, schwarz wie sein Gipfel. Er ist genauso, wie ich es mir erträumt hatte: ein sanfter Schurke.

Seine Südseite ist brutal, so brutal, dass der Giro d’Italia vor ein paar Tagen hier nicht durchgefahren ist. Seine Veranstalter wählten die andere Seite. Hier und da ist der Grund durch diesen Lavaberg aufgerissen und rau. Das zehrt mehr an den Kräften als es zurückgibt. Jedoch wird der Anstieg sanfter und ebener während man klettert, als ob der Berg einem danken würde, dass man ihn besucht.
Ein jeder Fahrer lässt sich von dem Gefühl dieses immense Abenteuer abzuschließen und der cineastischen Szenerie, die sich ihm bietet, verführen und elektrisieren. In der Mitte der Abfahrt hat man die scharfen Felsen zur Linken und die See zur Rechten und fährt volles Tempo.

Am Ende erreichte ich Platz 26. Mich empfingen nebst einer ordentlichen Ziellinie: Gejubel, Bier, Witze und Freunde. Alles hatte seinen Rhythmus und ich das Gefühl, dass ich nicht auf die nächste Saison warten kann.

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